Die Welt durch eine andere Brille sehen
Zu Besuch im Brillen-Museum von Karl-Heinz Wilke Trug der Apostel Petrus eine Brille? Wenn es nach dem Ma- ler Friedrich Herlin geht, steht das außer Frage. Denn auf dem Altarbild für die St.-Jakob-Kirche in Rothenburg ob der Tauber hat er 1446 den Apostelfürsten mit einer „Nietbril- le“ dargestellt. Allerdings entspricht dieses Requisit ebenso wenig der Realität wie ein mp3-Player auf einem Mozart- Porträt. Dokumentiert ist der Gebrauch von Sehhilfen für beide Augen, einer auf die Nase gesetzten Lesebrille, erst Ende des 13. Jahrhunderts. Wesentlich früher behalf man sich mit „Lesesteinen“ – mit zu Halbkugeln geschliffenen Aquamarin- oder Smaragdkristallen, die zur Beryll-Familie gehören. Ihnen verdanken die heute üblichen Sehhilfen ih- ren Namen: Brille! Ein richtungsweisender Fund Mit 16 Jahren fand Karl-Heinz Wilke eine Brille. Kein ge- wöhnliches Exemplar, sondern eine silberne Schläfenbrille, wie sie um 1800 getragen wurde. Er hob sie auf, um sie später behutsam zu restaurieren. Diese Brille war es auch, die den Lebensweg des Sohns eines Grobschmieds nach- haltig beeinflusste. Wilke wurde Optiker, machte seinen Meister, übernahm später sogar seinen Lehrbetrieb „Re- cke Optik“. In Winterhude bietet der Optikermeister mit dem „Brillenhaus Wilke“ eine weit über Hamburg hinaus einzigartige Attraktion: ein Brillen-Museum. Denn Wilke sammelt immer noch und hat inzwischen einige tausend Brillen zu einer ganz außergewöhnlichen Kollektion ver- eint, die sich ständig verändert. Denn anders als sonstige Museen lebt dieses Museum nicht nur von laufenden Zu- gängen, sondern auch von Abgängen. „Es gibt Menschen, die ganz gezielt eine historische Brille tragen möchten, eine Brille mit Geschichte“, so Brillenfreak Wilke. Deshalb ist er ständig auf der Suche nach Brillen, die charakteristisch für die Zeit ihrer Entstehung und die heute durchaus wieder „in“ sind. Was Wilke besonders fasziniert ist, die Vielzahl der Materialien, aus denen Brillengestelle gefertigt wurden: Gold, Silber, Messing, Bein, Horn, Schildpatt, Ac- ryl, Nickel – ja, sogar Holz diente dazu, die Glä- ser zu halten. Heute dominiert neben Titan sowie Metalllegierungen das Azetat die Herstellung von Brillengestellen. Dieses Naturprodukt wird aus Zellulose, einem organischen Faserstoff, der mit Essigsäure versetzt wird, gewonnen. Am Ende des Verarbeitungsprozesses stehen Platten, die beliebig weiterverarbeitet werden können. Alter Schick ganz neu Keineswegs jede der historischen Brillen, die Wilke im Angebot hat, ist aus „zweiter Hand“. Auf der Suche nach Brillen mit besonderem Flair stößt Wilke immer wieder auf Bestände heute ge- schlossener Brillenmanufakturen. „Es ist spannend zu beobachten, wie sich der Geschmack des Publi- kums gewandelt hat“, erzählt der Fachmann. „Eine Dame um die siebzig Jahre sucht keine Brille aus den Fünfzigern – ihre Enkelin schon! Während damals in Deutschland überwiegend ‚brave‘ Gestelle produziert wur- den, war man in den USA und Frankreich wesentlich expe- rimentierfreudiger.“ Und genau solche „Schätzchen“ kann Wilke anbieten, sehr zur Freude seines Kundenkreises mit außergewöhnlichen Ansprüchen. Der kommt nicht nur aus dem Großraum Hamburg – denn selbst in China hat es sich herumgesprochen, dass Wilke Raritäten zu bieten hat, die heute im Reich der Mitte kaum noch zu finden sind. Dahin hatten gelehrte Jesuiten, die zwischen 1583 bis 1773 immer wieder höchste wissenschaftliche Ämter bei Hofe innehat- ten, die Brille gebracht. Später wurde sie als „Mandarin- brille“ – je größer, desto besser – ohne optische Wirkung als modisches Accessoire getragen. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei laufendem Publikumsverkehr im Geschäft das kleine Museum nicht durchgehend geöffnet sein kann. Aber auf Anmeldung führt Karl-Heinz Wilke kleine Grup- pen durch sein Reich. Dabei besteht allerdings die Gefahr angesteckt zu werden, angesteckt von Wilkes Begeisterung für besondere Brillen, gepaart mit dem Wunsch, die Welt einmal durch eine ganz andere Brille zu sehen! Im Brillenhaus Wilke-Optik in der Jarrestraße 37 in Win- terhude (schräg gegenüber von Kampnagel) geben sich Ge- schichte und das neue Jahrtausend die Hand. Besichtigung des Brillen-Museums nach Absprache Tel.: 040 270 82 91. Foto/Text F.J. Krause © SeMa Hilft zwar nicht beim Sehen, aber macht schlaue Beamte noch schlauer – eine chinesische „Mandarinbrille“ um 1810 bis 1820 mit Teesteingläsern ohne optische Wirkung Optikermeisterin Janina Wilke teilt die Begeisterung ihres Vaters für Brillen von gestern Von Brillen kann er gar nicht genug haben. Optikermeister Karl-Heinz Wilke mit gleich drei Exponaten aus seinem Brillen-Museum in Winterhude Die Welt durch eine andere Brille sehen Die Brille, mit der alles begann. Eine um 1800 entstandene silberne „Schläfenbrille“ mit „Ellenbogen“ Neue Brillen aus einer alten Epoche. Karl-Heinz Wilke hat ein umfangreiches Sortiment historischer Brillengestelle für Kunden von heute Apostel Petrus mit „Nietbrille“. Die Fassungender Gläser werden durch eine Niete zusammenge- halten. Altarbild Friedrich Herlin in St. Jakob in Rothenburg o.T. 14 des Brillen-Museums nach Absprache Tel.: 0402708291.